2012

Lento furioso

Es ist schon ein paar Jahre her, ich war zu Besuch bei meinen Freund Pablo in New York, da lud er mich ein, ihn für ein Wochenende zu einem Farmhaus zu begleiten. Er hatte es kurz zuvor von einer Tante geerbt. Dieses Farmhaus stand irgendwo in der Landschaft Massachusetts, ganz im Westen, doch mussten wir vorher noch in die Nähe von Boston, nach Lexington, wo er eine paar gerahmte Zeichnungen an einen Sammler ausliefern wollte. Es war ein fürchterlicher Umweg, und zu allem Überfluss wolllte mein Freund, wenn wir schon einmal da waren, unbedingt noch das Denkmal für den Beginn der Amerikanischen Revolution sehen. Während der Fahrt in seinem 68’er Ford Fairlane erzählte er mir einiges über die Ereignisse von 1775 und sprach das Gedicht von Ralph Waldo Emerson, das die berühmte Zeile vom Schuss, der um die ganze Welt gehört wurde, enthält. Ich wunderte mich über dieses patriotische Interesse, doch für ihn war das gar nicht so abwegig, war er schliesslich in politisch unruhigen Zeiten in Chile aufgewachsen und hatte den Putsch Pinochets erlebt, bevor seine Familie Santiago verliess und sich in den USA niederliess.

Das Denkmal war das Bildnis eines Paramilitärs mit einem Gewehr entspannt vor den Oberschenkeln ruhend; ein schönes Bildnis eines jungen Mannes der auch ein französischer Revolutionär sein könnte, auf einem hässlichen Steinhaufen an einer Strassenkreuzung stehend. Der Ort wirkte wie die in Erfüllung gegangene Hoffnung aller Revolutionen, wie man sich die Kleinstädte der Oststaaten vorstellt: gegenüber der Statue, am anderen Ende der baumbesäumten Rasenfläche die weisse Puritanerkirche aus dem 19. Jhd. Ein paar schöne Residenzen aus Holz, eingebettet in die bunten Blätter des “Indian Summer”.

Nach einer ruhigen Fahrt erreichten wir spät abends das Haus; wir hatten uns im letzten Ort Pizza gekauft und ein paar Flaschen Samuel Adams-Bier; auch er ein Held der Revolution, Gastgeber der Boston Tea Party, nachdem er als Bierbrauer allerdings gescheitert war.

Es war noch warm genug um draussen zu sitzen, und wir machten ein kleines Feuer unter einer mächtigen Platane. Im Laufe unseres Gespräches ging Pablo mit der Bemerkung hinein, er habe da etwas, das mich interessieren würde und kam einige Zeit später mit einer Holzkiste und einem länglichen Ding, gewickelt in ein Baumwolltuch, wieder. Er habe die Sachen bei seinem ersten Besuch im Sommer gefunden und schon damals an mich gedacht, weil ich ihm wohl einige Male etwas über Klingen erzählt hatte. Das eingewickelte Objekt war nämlich eine Säbelklinge und  ein echtes Meisterstück dazu. In der Nacht stöberten wir noch einige Zeit in der Holzkiste; es waren Dokumente unterschiedlichster Art, alle sehr alt: Briefe, ein Tagebuch, Noten, eine Mappe mit ca 30 Zeichnungen, einige Urkunden, Zeitungartikel und ein paar brüchige Fotografien. Da viele Briefe und das Tagebuch in Deutsch geschrieben waren, schenkte Pablo mir fast die ganze Sammlung und den Säbel mit der Bitte, ihn über meine Ergebnisse auf dem Laufenden zu halten. Nur die Zeichnungen wollte er behalten, mir aber bald scans mailen.

Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, als ich Monate später endlich begann, den Inhalt der Kiste zu sichten und mir die Geschichte, die sie erzählten zusammenzusetzen. Dies ist

Die Geschichte der Gebrüder Franz und Josef Gall
und ihrer schicksalhaften Begegnungen.

Die Kindheit der 1838 (Franz) und 1840 (Josef) geborenen Jungen in der Gegend von Pforzheim war bereits recht unruhig verlaufen und nachdem sich ihr Vater, der Huf- und Waffenschmiedemeister Johann Fürchtegott Gall an der Badischen Revolution beteiligt hatte, sahen die Eltern ihre Hoffnung auf ein neues Leben in Freiheit in Amerika. Nach 41 Tagen an Bord des Seglers “Deutschland” kam die Familie im Herbst 1850 fast mittellos in New York an. Die Entbehrungen der Flucht hatten vor allem die Mutter Eisabeth sehr geschwächt, und sie verstarb noch im selben Jahr an Typhus in New York.

Erstaunlicherweise konnte der Vater bereits im folgenden Jahr wieder eine grosse Schiffspassage für sich und seine Söhne bezahlen; diesmal ging es nach San Francisco. Der Goldrausch hatte auch die Galls erfasst. Im Gebiet des Yuba River befand sich ihr claim. Bis auf die 1852 ausgestellte Besitzurkunde ist nicht viel überliefert aus dieser Zeit, erst in späteren Tagebuchaufzeichnungen kommt Franz darauf zurück, denn zwei wichtige Fähigkeiten erwarb er hier. Hatte er schon als Kind jede Gelegenheit genutzt, seinem Vater zuzusehen oder gar zur Hand zu gehen, so war er nun alt genug, in die Geheimnisse des Waffenschmiedens eingeweiht zu werden. Auch sein Bruder Josef wurde vom Vater unterwiesen, zeigte aber weder Begeisterung noch Geschick zu diesem Handwerk. Weil der Alltag im Goldgräberlager die unterschiedlichsten Holzarbeiten verlangte, erledigte Josef vor allem diese, und es zeigte sich rasch, dass hier sein Talent lag.
Während der ersten zwei Jahre war der Verdienst gering, und als die kleine Gruppe endlich auf eine ergiebigere Ader gestossen war, wurde sie überfallen und ausgeraubt. Um in Zukunft besser vor Banditen geschützt zu sein,  schlossen sie sich mit einer Gruppe Chinesen zusammen,. Von ihnen lernte Franz die Kunst des Gemüseschnitztens; er fertigte unter ihrer Anleitung die wundersamsten Klingen, während sie ihm den Umgang damit zeigten und über seine Fortschritte staunten. Aber auch die Vereinigung mit den chinesischen Goldgräbern verhinderte nicht den folgenschweren zweiten Überfall im Winter 1853, der die Gallbrüder zu Waisen machte. So beschlossen sie, die Goldsuche aufzugeben und gelangten mit ihrem geretteten Gold, das zum Kauf eines Stückchens Land reichte, nach Massachusetts.

Das Haus bauten die Brüder selbst; ein in dieser Gegend typisches, einstöckiges Farmhaus mit Veranda, und ihr Geschick lässt sich noch heute in den sorgfältig gearbeiteten Holzverbindungen erkennen. Auch die getrennt stehenden Werkstätten sind erhalten, wenngleich die Esse mittlerweile verschwunden ist. Warum sie sich an diesem entlegenen Ort niederliessen, kann ich nur vermuten. Möglicherweise sahen sie hier, in der Nähe einiger wachsender Städte und ihrer Verbindungsstrassen zu den Metropolen, gute Voraussetzungen für ihre Gewerke. Vielleicht war das Land günstig zu haben, oder es gefiel ihnen einfach dort, wo ausser Wald mit ein paar Weiden zwischendrin und mäansernden Wasserläufen mit wehrhaft wirkenden Biberburgen noch heute nichts ist. Sie gründeten eine Schmiede und eine Wagnerei und tatsächlich scheinen sie von Anfang an eine gute Auftragslage gehabt zu haben. Natürlich war die Waffenschmiedekunst hier nicht gefragt, doch blieb sie für Franz noch vor dem Gemüseschnitzen die Leidenschaft seines Lebens, für dessen Unterhalt er meist landwirtschaftliche Werkzeuge fertigte. Das Schwert, das ich nun besitze, ist eine in 1024 Lagen geschmiedete Damaststahlklinge. Solche Waffen hatten damals natürlich keinerlei Bedeutung in Amerika; in Deutschland fertigte man bis Ende des 19. Jahrhunderts den weniger aufwändigen Kürassiersäbel und einen solchen hatte Johann Fürchtegott seinen Söhnen hinterlassen. Es muss ein besonders edles Stück gewesen sein, denn dieser Säbel sollte eines Tages eine Reise nach Europa möglich machen.

1862 zog der jüngere Bruder in den Bürgerkrieg, Franz blieb daheim. Das Schmieden hatte ihn früh - möglicherweise ohnehin schlecht disponiert ? – fast taub werden lassen; Josef diente im deutschen Regiment unter Karl Schurz, wurde aber in der ersten, verlorenen Schlacht durch die Explosion einer Kanone so stark verletzt, dass er einige Monate später fast blind heimkehrte. Merkwürdigerweise begann er nun zu malen. Waren es anfänglich Versuche, Farbspiele von Explosionen festzuhalten, richtete sich sein Interesse bald schon auf Landschaftsbilder. Mit seinen Aquarellfarben setzte er sich, wann immer er Zeit hatte, irgendwo in die Landschaft in der Nähe des Hauses und malte das, was er mit seinen schlechten Augen sah; es müssen im Wesentlichen Farbfelder und ihre Verläufe gewesen sein - in einigen Briefen ist die Rede von “buntem Nebel”, “farbigem Rauch” oder auch “explodierendem Malkasten” - zunächst auf Papier, dann auf ungefähr I qm grossen Leinwänden. Da er als Wagner und Zimmermann den Wert gerader und sauber gehobelter Latten zu schätzen wusste, seine Malerei hingegen nur als Zeitvertreib sah, begann er, mehrere Leinwände übereinander zu spannen; bis zu 40 sollen es gewesen sein, Sein Bruder Franz wiederum hatte inzwischen eine grosse Meisterschaft im Gemüseschnitzen erlangt und sich dazu einen kleinen Gemüsegarten angelegt, der nicht nur Material für seine Kunstwerke, sondern auch für die Küche der zwei Einsiedler lieferte.

Das älteste Bild der beiden ist ein Holzstich in der New Yorker Staatszeitung vom April 1864. Ein kurzer Bericht über zwei hervorragende deutsche Handwerksmeister am Weg zur Hauptstadt des Staates New York. Die Gebäude erkennt man sofort. Ich wundere mich über das Schild an den Werkstätten. Da steht: “Smith & Wagner”. Warum sie Schmied übersetzt haben, aber nicht Wagner, wundert mich. Sie hätten ja auch Smith & Cartwright schreiben können… denke ich; aber ich habe als Kind ja auch “Bonanza” gesehen. Dass sie nicht Gall-Brothers gewählt haben, verstehe ich… In der Bildmitte stehen, der eine den Arm über die Schultern des anderen gelegt, zwei anscheinend recht kleine, gebeugte Männer mit ungekämmten Haaren in Arbeitskleidung. Obwohl beide erst Mitte Zwanzig, wirken sie für mich wie Anfang Vierzig. Sie haben auffallend kleine Augen, ein faltiges Gesicht, breite Nasen und eine fliehende Stirn gegenüber einem massiven Kiefer. Sie könnten Zwillinge sein, doch nur Franz blickt den Betrachter mit einem schiefen Lächeln an.

Im Mai desselben Jahres lässt sich eine Ziegenhirtin mit ihrer Herde auf ihrem Land nieder. Franz berichtet ausführlich über diese Neuigkeit und es ist schwer vorzustellen, dass sich die beiden nicht sofort in die etwa gleichaltrige Schönheit verliebt haben. Angesichts eines wesentlich späteren Fotos, das eine selbstbewusst blickende, überaus attraktive Dame Ende Vierzig mit einem breitkrempigen, weissen Hut zeigt (datiert 1885), scheint es mir gar nicht anders möglich, als dass die Brüder sie angefleht haben, für immer zu bleiben. Adrienne Bloemart heisst sie. Woher sie kam, ist nirgends vermerkt. Sie bleibt für eine lange Zeit - wenn ich die Materialien richtig interpretiere - für sieben Jahre, bis Weihnachten 1871. Im seinem Tagebuch schreibt Franz in zaghafterer Verehrung über die Heiterkeit, die stets von ihr ausgehe. Es war eine Heiterkeit ohne Worte, da Adrienne nicht gesprochen haben soll. Statt dessen summt und singt sie den ganzen Tag. Auch wenn sie zu den Brüdern “spricht”. Diese wird es wohl kaum gestört haben, waren sie selbst doch äusserst schweigsam. Franz schreibt einmal über die Mühen mit Kunden, die ständig reden wollten und dass er noch auf jemanden warte, mit dem er sprechen wolle, es kämen schliesslich ständig neue Menschen nach Amerika …

Auch Josef spricht wenig und schreibt nie; zumindest ist kein Schriftstück seiner Hand überliefert; vielleicht hatte er es nie gelernt. In Adrienne findet er eine grosse Hilfe als sehende Assistentin und hat nun mehr Zeit für die Malerei . Laut Franz’ Tagebuch sind 1866 fast alle Wände des oberen Wohngeschosses mit den “Farbkissen” behängt, was im Winter problematisch wird, da die Bilder an der Rückseite zu schimmeln beginnen. So hat Josef nichts dagegen, als ein wohlhabender Mann aus New York eines Tages fragt, ob er einige Bilder mitnehmen könne. Jack Barbeau ist Spekulant und während des Sezessionskrieges zu einem beachtlichen Vermögen gekommen, das er nun in Eisenbahn- und Stahlaktien angelegt hat. Kennengelernt hatten ihn die Gall-Brüder während ihrer gelegentlichen Besuche der damals in Mode kommenden Baseballspiele in New York City. Josef will die Leinwände abspannen, aber Barbeau meint, er könne das selbst, wolle aber erst einmal versuchen, die Bilder so anzubieten, vielleicht sei es ja gerade die eigenartige Form, die sich verkaufen liesse. Er habe da bei einem schwerreichen Mann ganz ähnliche Bilder von einem englischen Maler gesehen.

Eigentlich war Barbeau nach Massachusetts gekommen, um sich die Klingen des Älteren anzusehen. Er sammelt Klingen, vor allem  Schwertklingen, und begeistert sich sofort für die von Franz gefertigten Säbel. Gleich bei seinem ersten Besuch macht er ihm auch ein Angebot für das Erbstück, doch verkauft Franz ihm lediglich 3 seiner eigenen. Wenige Wochen später ist bereits ein zweiter Besuch Barbeaus im Tagebuch vermerkt. Alle Farbkissen sind verkauft. Franz beschwert sich in seinen Notizen, dass Jack als Provision fünfzig Prozent behält, wundert sich aber zugleich, dass es überhaupt Geld für sowas gibt. Josef erhält 200 Dollar für 4 Bilder und Barbeau nimmt weitere fünf mit, wovon zwei schon reserviert sind.

Bei diesem Besuch begegnet Barbeau Adrienne zum ersten Mal. Als er wieder abgereist ist, machen sich die drei tagelang über ihn lustig. Völlig falsch gekleidet, war er in der Matsche vor dem Haus zweimal ausgerutscht , hatte sich die weissen Gamaschen und das schwarze Cape verschmutzt und einen Finger gebrochen. Ich stelle mir ein gutgelauntes Trio vor, das immer wieder einzelne Bewegungen mit wilden Grimassen vollführt und sich dabei schief lacht. In einem Foto dieser Zeit sieht man Barbeau als kleinen, übergewichtigen Mann um die Vierzig mit kurzem Hals, wulstigen Lippen und Wurstfingern, Edward G. Robinson mit Babyface. Mit ihm im Bild sind Franz, Josef und Adrienne, die, in der Mitte der Gruppe stehend, die anderen um fast einen Kopf überragt und in ihrer Schönheit irgendwie nicht dazu gehört. Franz hat ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Auf der Rückseite des Albuminabzugs steht 1867.

Barbeaus Besuche finden nun regelmässig statt und bescheren den Freunden einen gewissen Wohlstand. Franz verkauft ihm einige seiner Klingen und Messer, zeigt ihm wohl auch seine Gemüseschnitzerei, doch Barbeau meint, die Möhre schmecke ihm so oder so nicht, er solle ‘mal Schweinefleischskulpturen versuchen. Josef beginnt nun, immer mehr unbemalte Leinwände unter die oberen Schichten zu spannen, um Barbeaus Bestellungen nachzukommen. Adrienne hilft ihm; auch beim Malen. Barbeau sagen sie davon nichts.

1868 wird ein Flügel bei Steinway & Sons in New York gekauft, die Wand des Wohnraums zur Veranda aufgesägt und Josef baut eine Doppeltür ein. Adrienne erhält Klavierunterricht von einem Organisten aus der Nähe. Im selben Jahr gibt Franz endlich dem Drängen Barbeaus nach und verkauft den Säbel seines Vaters. Diesmal geschieht beinahe ein Unglück, als Barbeau wieder stolpert und sich mit dem alten Säbel fast den Arm abtrennt. Franz kann nun nach England reisen und in Sheffield die massengefertigten Klingen und andere Werkzeuge sehen, von denen er schon viel gehört hat. Vor allem aber will er einen legendären Gemüsewettbewerb in der Nähe von York besuchen. In einer Zeitschrift hatte er gelesen, dass dort die grössten und schönsten Züchtungen der Welt gezeigt würden und seither träumte er von riesigen Gemüseskulpturen aus riesigen Möhren und gigantischen Radieschen. London besucht er natürlich auch und sieht sich die japanischen Schwerter im British Museum an. Nach 4 Monaten kehrt er mit einer Hozkiste voll neuer Erwerbungen heim. Neben Sheffielder Stahlerzeugnissen und mehrerer Sorten Gemüsesamen ist darunter auch die Lithographie eines Bildes von William Turner; und er bringt Noten mit: Walzer von Chopin und Johann Strauss, Wagners Tristanvorspiel und dessen Wesendoncklieder.

Kurz nach seiner Rückkehr nehmen die Tagebucheinträge deutlich ab. Hatte er wohl vor seiner Reise ein zärtliches Verhältnis zu Adrienne, scheint sie sich in seiner Abwesenheit seinem Bruder zugewandt zu haben. Dazu notiert er jedoch nur wenige Worte. Manchmal schreibt er von Adriennes Klavierspiel – sie muss vor allem das Tristanvorspiel immer wieder geübt haben, und er zitiert einige Zeilen aus den Wesendonckliedern, die sie häufig singt: “Halte an dich, zeugende Kraft / Urgedanke, der ewig schafft! / Hemmet den Atem, stillet den Drang / Schweiget nur eine Sekunde lang! / Schwellende Pulse, fesselt den Schlag / Ende, des Wollens ew'ger Tag! “ und: “ Weit in sehnendem Verlangen / Breitet ihr die Arme aus, / Und umschlinget wahnbefangen / Öder Leere nicht'gen Graus.“

Franz vernachlässigt seinen Garten, die Riesenradieschen verfaulen in der Erde und zu den Baseballspielen in New York City fährt er allein, bleibt meist einige Tage und beginnt zu trinken. Mit Barbeau besucht er Boxkämpfe und Bordelle am Broadway, wo er sich vermutlich mit Syphilis infiziert. Gemüseschnitzen nennt er es nun, wenn er Äpfel oder Kartoffeln hoch wirft und dann in der Luft mit einem Säbel sauber durchtrennt. Nur das Schmieden behält er bei und übt sich unverdrossen in der Fertigung von Damaststahlklingen. Nach vielen gescheiterten Versuchen hält er sein Meisterwerk in Händen - jenes mir zugekommene Schwert. Er nennt es Damokles.

Josef malt zunächst weiter, doch Barbeau kann die Kissenbilder nicht mehr verkaufen und so beschäftigt er sich mit kleinformatigen Zeichnungen, die meist in Frottagen von Baumrinde und Steinen gefügt sind. Seine Wagnerei geht weiterhin gut und er beginnt sich mit Automobilen zu beschäftigen; studiert Bücher und Zeitschriften dazu und freut sich über jedes Exemplar, das er berühren kann..

Adrienne verkauft ihre Ziegen und beginnt Reitpferde zu züchten. Wenn das Verhältnis der beiden zu dieser Zeit wirklich noch bestehen sollte, bemühen sie sich um Diskretion; Franz schreibt jedenfalls nichts über entsprechende Beobachtungen. ist aber weiterhin eifersüchtig. Er trinkt jetzt sehr stark, verlässt kaum noch seine Schmiede und schläft sogar dort. Kurz vor Weihnachten 1871 kommt es zur Katastrophe. Als Josef eines Abends in sein Schlafzimmer kommt, schnellen zwei Säbel von der Decke durch das Dunkel in seine Richtung. Da sie sich aber gegenseitig in ihrem Fall berühren, trifft ihn nur die stumpfe Seite einer Klinge, und er bleibt unverletzt. Franz hatte die Waffen mit einem Zug- und Federmechnismus mit der Tür verbunden, wohl mit dem Ziel, seinen Bruder und die Freundin zu töten; Adrienne schlief allerdings bereits in ihrem eigenen Zimmer. Durch Josefs Schrei aufgeweckt durchschaut sie sogleich das Geschehen und flieht aus dem Haus. Sie reitet mit ihrem Lieblingspferd davon und kehrt nie wieder zurück. Franz, von seinem Bruder zur Rede gestellt, erleidet einen Zusammenbruch und hört wochenlang nicht mehr auf, zu weinen, obwohl sein Bruder bereit ist, ihm zu vergeben. Im Januar 1872 erreicht die beiden eine Einladung zur Vermählung von Jack „of all trades“ Barbeau mit Adrienne Bloemart. In der Kiste fand ich das Hochzeitsfoto der beiden, Barbeau scheint noch fetter geworden zu sein und strahlt über beide Ohren, Adrienne blickt konzentriert in die Kamera. Am 3. Februar stirbt der Schmied Franz Gall durch eigene Hand. Er hatte sein Schwert mit einem Baumwollfaden an der Decke befestigt. Kurz oberhalb des Schwertheftes lief der Faden durch ein kleines Blech, auf dem eine Kerze stand. Franz setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und erwartete gelassen den tödlichen Stich. In seinem Tagebuch stehen an diesem Tag nur zwei Worte: „Gott!π vergieb“...

Josef ging bald darauf nach New York, kaufte sich seine erste Brille und half einige Jahre später, die ersten Rennautos zu bauen. Er wurde 69 Jahre alt. Jack Barbeau starb an einem Herzinfarkt infolge der Börsenpanik im September 1873, zwei Monate vor der Geburt seiner Tochter Francine, die Filmschauspielerin werden sollte. Adrienne Barbeau konnte sein Vermögen durch die Depression retten, wurde eine geachtete Dame der New Yorker Gesellschaft, trat gelegentlich als Komponistin hervor und starb hochbetagt erst 1939. Im Farmhaus war einer ihrer ersten Kompositionsversuche zurück geblieben. Das Blatt ist leer, bis auf die Satzbezeichnung in etwas krakeliger Schrift: „Lento furioso“.

Christoph Platz 2012

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