2010

du mich auch

Besinnlicher Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung du mich auch in der Künstlerzeche Unser Fritz, Wanne-Eickel am 5. Juli 2010 von Christoph Platz

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Bildenden Kunst,
liebe Kinder,

ich freue mich über Ihr zahlreiches Erscheinen und bitte zu entschuldigen, dass heute nicht, wie üblich, ein geübter Redner die Einführung hält, sondern statt dessen ich mich entschlossen habe, anlässlich dieser eindeutigen Skulptur etwas Verwirrung zu stiften. Ich möchte gern etwas Sand in Ihre Augen streuen, denn diese Skulptur ist – wie alle meine Arbeiten – sehr persönlich und – wie alle meine Arbeiten – sehr wahr; an diesem Ort aber besonders.

Ich könnte wohl an keinem Ort ausstellen, der näher an meiner Kindheit läge als dieser. Nur wenige Meter entfernt bin ich in den Kindergarten gegangen, und vor meiner Kindheit bereits hatte mein Grossvater hier, d.h. natürlich irgendwo da unten, sein Augenlicht zur Hälfte verloren.

Man sagt zwar so „in den Kindergarten gegangen“, doch wurde ich ja eigentlich gefahren; mit einem VW Bully mit einer Schiebetür, vor der ich als Kind immer Respekt hatte, und die wir Kinder nie öffnen oder schliessen durften. „Klappe zu Affe tot!“ sagte unser Fahrer Hans-Werner, wenn er sie mit einem entsetzlichen Krachen in ihr Schloss geschleudert hatte.

In meiner Erinnerung sitze ich im Bus immer hinten rechts, auch wenn ein Foto mich links in der Mitte zeigt. Auf der Hinfahrt sehe ich die Zeche nicht. Ich sehe aber gut den jungen Mann, der jeden Morgen eine Kreuzung vorher auf uns wartet und begeistert winkt; so wie wir wieder winken. Wir wissen wie er heisst, und warum ihm der Speichel immer aus dem Mund läuft ... Hans-Werner hat es uns erklärt.

Auf der Rückfahrt sehe ich die Zeche wieder nicht. Der in der Sonne glitzernde Kanal brennt sich in mein Auge, das gleissende Licht zerschneidet das Gerippe des Verladekrans vom Hafen in splittrige Teile, es ist, als riesle Asche durch das Licht. Etwas unterhalb der Fahrbahn stehen hölzerne Wohnbaracken, liegen leere Betonfundamente , teilweise von Gestrüpp überwuchert, und stimmen mich ahnungsvoll. Harte Hochbetten in Mehrbettzimmern stelle ich mir vor, die Wände innen, wie die sichtbaren äußeren, grau. Irgendwie wie Jugendherberge, nur ahne ich, dass es noch viel weniger lustig sein muss: Arbeit wie eine Strafe... Aber das ist selbstverständlich kindliche Vorstellung – so zutreffend wie die Hoffnung, wenige Jahre danach, auf der Strasse wegen meiner Erbsenpistole für einen Terroristen gehalten zu werden.

So ein ahnungsloser Spinner war auch der Affe, der hinter der Klappe – Hans- Werner hat uns auch seine Geschichte erzählt:

Die Legende vom singenden Affen

Wie der bedeutende Denker Immanuel Kant, war der Affe vor langer Zeit in Königsberg geboren worden, und viele Jahre sah es so aus, als würde er, ganz wie der grosse Philosoph, gern die Welt bei sich zu Gast haben, um ihnen die Künste seiner Köche vorzuführen, alles weitere weltliche jedoch unbewirtet zu lassen. Aber seine Gäste hatten den Affen mit der Zeit begierig gemacht, die Welt zu sehen, ja, sie hatten ihn mit einer unstillbaren Sehnsucht nach Frankreich erfüllt, dem Land der Revolution, dem Land der Sänger und dem Land der Sänger der Revolution.

Eines Tages verliess er sein kleines Königsberger Häuschen und machte sich auf gen Westen. Preussen verliess er leichten Herzens. Er wollte singen lernen und dann auf der Bühne der Pariser Oper die schönsten Frauen der Welt betören, denn er wusste von Kant, der einst als sein Hauslehrer im Gespräch gewesen war: Alles Gute, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als Schein und schimmerndes Elend.

Das sagte ihm unmisverständlich, dass er der Richtige war –Der Affe und seine Pläne waren diese gute Gesinnung, der Erfog mithin zwangsläufig.

Die Reichsbahn brachte ihn von Königsberg bis Wanne-Eickel Hauptbahnhof, damals der grösste Güterbahnhof der Welt. Es waren nur noch wenige Kilometer bis Essen, bis zum Beginn des französischen Territoriums. In Paris wollte er sich Napoleon selbst vor die Füsse werfen und ihn über seine Pläne befinden lassen; doch zunaechst wollte er sein Reich sehen, es erleben, den neuen Menschen seiner Welt begegnen.

Da man ihn zu dieser Zeit nicht einreisen liess, nahm der Affe sich ein bescheidenes Zimmer in der ersten Adresse am Platze, dem Hotel Chevalier in Crange. Abenteurer, Pioniere und die damals noch seltenen Bergwerksingenieure, Waffenkonstrukteure, Vorhut eines sich abzeichnenden Aufschwungs, dessen Ausmasse sich noch niemand vorstellen konnte, verkehrten hier und berichteten von den ungeheuerlichen Entwicklungen in der Gegend, aber auch, wie schlecht es auf der französischen Seite zuginge.

So kam ihm eines Tages zu Ohren, dass man Napoleon für immer nach Helgoland verbannt hatte – er war entsetzt, seine Pläne waren sinnlos geworden, alles war umsonst gewesen!

Doch der Affe gehörte nicht zu denen, die sich leicht unterkriegen lassen. Nach einer kurzen Weile der Selbsterforschung entschloss er sich, privaten Gesangsunterricht bei dem damals weithin bekannten Gesangsprofessor Wilhelm Käse zu nehmen, der auf der französischen Seite an der Volksland- Musikakademie lehrte. Schon bald wurde er als Student in die Volksland-Akademie aufgenommen, und er erhielt sogar ein Stipendium.

Sein Abschlusskonzert war ein fulminanter Erfolg und wurde von der Stadt Wanne- Eickel mit dem ersten Kunstpreis der Stadt Wanne-Eickel geehrt. Nicht zuletzt deshalb gefiel ihm bald die Idee, sich hier niederzulassen. Er verliess sein kleines Hotelzimmer und zog in ein altes Bahnwärterhäuschen am Kanal, das ihm als ehemalige Fehlinvestition von der Bahngesellschaft, deren Direktor im Hotel Chevalier die Suite auf seinem Flur bewohnt hatte, günstig überlassen worden war. Es stand fast am Ende dieses Kanals, am letzten Abschnitt vor der Grenze, am Ende dieses, wie er fand, stümperhaft gebauten preussischen Kanals. Wenn er abends auf das Wasser schaute, wusste er, dass es schon bald durch elegante, meisterhaft gebaute französische Kanäle fliessen würde, durch die Wasserstrassen der genialen Erfinder der Wasserstrassen.

Den grössten Teil seines Vermögens investierte er in einen Konzertsaal, den er an sein Bahnwärterhäuschen anbaute. Alle anfallende Arbeit leistete er allein. Er war sein eigener Handwerker, Hausmeister, sein Kassierer, Platzanweiser und Klavierbegleiter. In seinem selbstgebauten Saal sang er für die Menschen. Er sang von der Revolution und von der Freiheit; er wollte mit seinem Gesang die Menschen begeistern, sie dazu bringen, sich den Franzosen anzuschliessen, die Grenze zu überschreiten und sich zu vereinen mit der grossen Idee der Freiheit.

Sein kleines Anwesen war ganz auf den Konzertbetrieb ausgerichtet, nur seine helle Wohnküche und sein Schlafraum im ersten und zweiten Stock des Bahnwärterhäuschens waren privat. Sein Badezimmer war auch das Badezimmer seiner Konzertbesucher. Um so privater war seine kleine Bank, die schon vor ihm hier gewesen war, die er nun an die Westseite seines Konzertsaales mit Blick auf den Kanal gestellt hatte; auch ein kleines Dach hatte er ihr gezimmert. Allabendlich, wenn seine letzten Besucher das Foyer verlassen hatten, das eigentlich Teil eines alten Zirkuszeltes war, ging er zu seiner Bank.

Dort träumte er, sie alle, die ihn gehört hatten, würden sich eines Nachts, nach einem Konzert erheben und vereint ihre grauen Kleider ablegen, um ins Wasser zu gehen. Zu tausenden würden sie in den Kanal steigen und singend ins Reich der Freiheit schwimmen; im Licht des Mondes, des Mondes von Wanne-Eickel. Dies träumte er Abend für Abend, viele Jahre lang.

In der ersten Zeit kamen die Menschen in Scharen. Nach dem Sieg der Alliierten ging man gern aus. Die Menschen waren ausgehungert nach Kunst und Kultur und der Affe galt als einer der ersten Künstler einer neuen Zeit, die sogar ihn selbst in Begeisterung versetzte. Die neuen Freiheiten begannen auch hier, sich allmählich durchzusetzen, und des Affen Träume von Paris schienen ferne Vergangenheit. Nun sah er ein neues Reich entstehen und er glaubte, sein Konzertsaal könne das Zentrum werden eines Parks der Künste, wie es ihn noch nie gegeben hatte, eines Vorbildes für die Gesellschaften dieser Welt. Er nannte seinen Ort „Die Goldküste“.

Doch irgendwann verging diese glückliche Zeit, wie alles vergehen muss. Die Menschen fuhren bald in weit entfernte Länder, kauften sich Radios, Fernseher und Telefone und gingen weniger aus. Immer seltener waren seine Vorstellungen ausverkauft, geschweige denn, dass er aus seinem kleinen Kassenhaus Klappstühlchen herausreichen musste. Es war allerdings auch seine Stimme, die ihren Zenith bereits überschritten hatte, was dem Publikum nicht entging. Nach einigen Jahren, in denen er die Ersparnisse seiner frühen Erfolge nach und nach aufzehrte, wurde es immer öfter eng, und er wusste manchmal nicht, wie lange er den Konzertsaal noch halten konnte. Manchmal dachte er daran, den Konzertbetrieb einzustellen und den Saal zu einem Restaurant umzubauen.

Eine letzte Hoffnung wurde zerstört, als der Affe bei einem Konzert an der Academie de Musique in Paris in Anwesenheit des grossen Gossec versagte. Seine Freundin aus Studientagen, die dort im Chor sang, hatte ihm über Beziehungen zu diesem Auftritt verholfen und er war als Triumph geplant gewesen; wenn nicht dort dann in seiner Heimat. Nun war es eine kostspielige Abwesenheit geworden, für die er manch ungeschickte Erklärung vorzubringen suchte. Die Goldküste war indes nie entstanden. Ringsum wuchsen und verschwanden Hochöfen, Zechen und Fabriken, doch der Konzertsaal war der einzige Ort seiner Art weit und breit geblieben.

Die Leute sahen nun in dem Affen lange schon einen Kauz, der ständig mit sich selbst redete, wenn man ihn bei Besorgungen oder auf Spaziergängen traf. Einige meinten, der Affe sage immer wieder „ non-perepherielles Zentrum“, da war sich aber keiner sicher, doch von manchen war der Spruch verbürgt:“ Ich wünschte, es wäre Nacht oder die Franzosen kämen“, und viele machten sich lustig darüber, bevor es in der Gegend zu einem geflügelten Wort wurde, dessen Ursprung bald niemand mehr erinnerte.

Ein weiteres geflügeltes Wort erlebten einige Menschen damals in seiner Entstehung, als sie, die letzten Verehrer der Kunst des Affen, eines Abends vor dem Kartenhäuschen standen, aus dem er mit einem würdevollen Lächeln die Platzkarten zu überreichen pflegte. Doch die Klappe war geschlossen. Niemand hatte je zuvor diese Klappe verschlossen gesehen, und so hatte niemand je die Worte gelesen, die der Affe mit geübter Hand darauf geschrieben hatte, Worte des von ihm so geliebten, grossen französischen Dichters Friedrich Nietzsche:

Abseits vom Markte und Ruhme begibt sich alles Große.

Klappe zu – Affe tot!, soll einer gesagt haben. Er hatte Recht, wie sich herausstellte.

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